Erst neulich machte Baden-Baden seinem Ruf als Sommerhauptstadt Europas wieder mal alle Ehre. Natürlich war es dieses Jahr ganz besonders heiß, besonders im Zentrum, dort am Leopoldsplatz, der von den Baden-Badenern der Einfachheit halber ‚Leo‘ genannt wird. Wie meist um diese Jahreszeit waren viele Gäste da, z.B. aus Dubai und den Emiraten, die in Erwartung großer Kühle hierher gekommen waren. Zumindest die Frauen waren ganz heiß auf eine mögliche Abkühlung, weshalb sie sich kleidungsmäßig eher bedeckt gaben. An ihrer Seite immer eine vielköpfige Familie, die sich, kaum einer Großraumlimousine entstiegen, ohne erkennbare Wanderabsicht gleich auf den Stühlchen unter den Bäumen der Sophienallee niederließen.
Bis freilich alle Gäste vorgefahren und ausgestiegen waren, dauerte das eine ganze Weile, vor allem da gerade an diesem Tag weit und breit kein Gemeindevollzugsbeamter zu sehen war. Der hätte aus gegebenem Anlass mal etwas Struktur in die im wörtlichen Sinne verfahrene Situation bringen können. Es war ein ziemliches Hin und Her, vor allem, weil die Fahrzeuglenker unter den Gästen in völliger Verkennung dessen, was eine verkehrsfreie Fußgängerzone ausmacht, sich am Steuer aufführten, als stünde der Leopoldplatz – sagen wir mal – in Bombay.
Noch schwieriger wurde das Ganze, weil es sich bei den Fahrzeugen um sogenannte SUVs handelte, also Porsche Cayenne, Range Rover und die dicken BMWs. Die sind alle vierradgetrieben, groß und schwer. An sich schon unübersichtlich, wird so ein SUV noch unübersichtlicher, wenn hinter ihm zwei weitere SUVs stehen und auf begrenztem Platz genau dasselbe wollen: herfahren, rangieren, parken, ausladen, wegfahren!
Für uns Zaungäste war das ein echter Hingucker. Ganz großes Kino. Na ja, für Baden-Baden jedenfalls.
Zur Erbauung der am ‚Amadeus’ sitzenden Gäste ging das eine ganze Weile so, bis es irgendwann halt eintönig wurde. Dann nahte der nächste Programmpunkt. Es erschien auf der Bildfläche ein Musikant, der eine Gitarre bei sich führte und auf dem Wägelchen einen Verstärker hinter sich herzog und sich neben der abstrakten Skulptur aufbaute. Diese Skulptur hat ein bisschen Ähnlichkeit mit einer von Henry Moore, ist aber wahrscheinlich nur halb so teuer gewesen. Jedenfalls stellte sich der junge Mann – noch ein wenig unsicher – in Positur, schnallte sich ein Headset um, schaltete den Verstärker an und begann zu singen.
Doch handelte es sich bei dem Sänger Gott sei Dank weder um einen russischen Bass, der uns mit dem ‚Einsamen Glöcklein’ taub singt. Noch war der nette Musikant einer von jenen, die vor langer Zeit aus Woodstock zurückgekehrt, seitdem mit ‚Blowing in the Wind‘ ganze Fußgängerzonen entvölkern. Nein, der Sänger kam, wie er später selber zugab, aus Karlsruhe und sang zudem recht schön.
Er hatte eine angenehme Stimme, nicht zu laut und schon gar nicht nervig. Selbst wenn ein Song einmal dramatisch wurde, war aus seinem Mund keine Missstimmung zu vernehmen. Fortan reihte sich ein Lied sozusagen an das andere, wie Perlen an einer Kette. So gesehen könnte man sagen, dass das musiktrunkene Publikum von den musikalischen Perlen den Hals nicht voll genug kriegen konnte. Nachdem der Sänger das Publikum länger mit seiner Darbietung erfreut hatte, brandete zu seinem eigenen und unserem Erstaunen erster Beifall auf, von dem er sich ermuntert fühlte, einfach so weiterzumachen.
Es kam dann aber wie es kommen musste: irgendwann hatte er keine Lieder mehr, die er hätte präsentieren können. Er war sozusagen leer gesungen und wollte mit musikalischem Anstand seinen Abschied nehmen. Das Ganze wäre auch rundum harmonisch geendet, wenn nicht just in diesem Moment die Staatsmacht im Streifenwagen auf den Platz gerollt wäre.
Zwei Polizisten in kugelsicherer Weste stiegen aus und kamen auf den Barden zu. Was im folgenden gesprochen wurde, war nicht zu hören, aber es machte sich bei der versammelten Fanschaft eine leichte Beklommenheit breit, vor allem, da man kurz zuvor den Sänger noch euphorisch verabschiedet hatte, nicht ohne ihn mit Münzen allerlei Art zu bedenken. Jetzt also das böse Ahnen, dass er unter Umständen ohne Genehmigung aufgetreten war. Hier würde Strafe folgen. Die Atmosphäre war dementsprechend angespannt.
Wir alle wurden so Zeugen eines stummen Gesprächs. Hatte er die Lizenz dabei, die übliche Genehmigung des Amtes für öffentliche Ordnung? Offensichtlich nicht, denn er machte keine Anstalten, nach einem Papier zu kramen. Quälend lange Momente. Es war, als würden selbst die vollverschleierten Frauen aus Dubai schweigen. Fortgesetzter Disput. Dabei leichtes Hoffen: vielleicht hatten die Beamten einen Musikwunsch oder trugen sie sich gar mit dem Gedanken, den Sänger anlässlich des Jahresfestes des Polizeisportvereins zu engagieren?
Wäre es nicht übertrieben, möchte man jetzt auf die allseits bekannte Stecknadel verweisen, die man in diesem Moment zu Boden hätte fallen hören können. Dann aber brandete wieder unvermittelt ein kräftiger, den Künstler unterstützender Beifall auf. Die zwei Polizisten gingen zum Auto. Dann wieder Stille. Ein schmerzliches Ahnen: jetzt holen sie das Formular, mit dem man für gewöhnlich Strafmandate erteilt.
Doch nichts geschah. Die Polizisten stiegen in ihr Fahrzeug. Ende des Vorgangs. Kein Formular. Stattdessen gab es kräftigen Beifall vom Publikums für die beiden Polizeibeamten. Entspanntes Lachen der Zuschauer. Ein kurzes Blaulicht als letzter, optischer Gruß, dann ein freundliches Winken durch das geöffnete Fahrzeugfenster.
Als hätten sie beim Wegfahren mit ihrem Winken eine eventuell aufkommende Missstimmung zerstreuen wollen.