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„…ein größerer Bescheißer“

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Wie Paracelsus einmal unseren Markgrafen beschimpfte 

Der Frühling kommt. Der Maler geht. Ein rundum gelungener Abschluss? Als der kleine weißlackierte Transporter der Firma Dieterle aus Forbach vom Parkplatz vor der Kirche rollte, hatten sich die Anzeichen verdichtet, dass die Renovierung der Stiftskirche in Baden-Baden nunmehr beendet ist. In naher Zukunft müsste also auch niemand mehr den Handwerker an seinen auf dem Transporter prangenden Werbespruch erinnern „Über hundert Jahre: Farbe im Blut“.

Lange genug hatte es ja gedauert, bis zum Frühling dieses Jahres nach dreijähriger Renovierungszeit eine der bedeutendsten Kirchen des Landes wieder geöffnet hat. Im Inneren ruhen vierzehn Markgrafen von Baden und ihre Angehörigen. Einer der Bedeutendsten war der Markgraf Philipp von Baden. Er war der fünfte Sohn des Markgrafen Christoph I und seiner Gattin Ottilie von Katzelnbogen, die insgesamt fünfzehn Kinder zur Welt brachte. Sie muss von zäher Konstitution gewesen sein, denn von den fünfzehn Kinder überlebten deren dreizehn.

Ihr Sohn Philipp scheint von eher schwächerer Natur gewesen zu sein, denn er litt an einer fortwährenden Darmstörung, die die Ärzte am Hofe nicht zu heilen vermochten. 1526 z.B., lag er wieder einmal siech darnieder. Ein Fachmann musste her, einer, von dem man sich Wunderdinge versprach. So einer wie Theophrastus Bombast von Hohenheim, besser bekannt unter dem Namen Paracelsus, der, von unbestrittener Kompetenz, sich zu der Zeit in Süddeutschland aufhielt und der es richten sollte. So habe er z.B. in Ingolstadt ein Mädchen geheilt, das gelähmt war. Nicht so viel Glück hatte hingegen Petrus von Burckhardis. Der war an seinem Asthma erstickt. In dem Fall war offensichtlich nichts mehr zu machen gewesen. Anders in Rottweil – da heilte er eine Äbtissin, die an Gürtelrose litt (derzeit kursierender Werbespruch: „Kann sehr belastend sein“).

Genug Empfehlungen also, nach dem Doktor zu schicken, der bald darauf wohl auch eintraf, um dem Markgrafen seine weithin gerühmte ärztliche Kunst angedeihen zu lassen. Und in der Tat war zu seiner Zeit Paracelsus das, was man eine Koryphäe nennt, ein Promidoktor, zu dem ‚man‘ ging.

Paracelsus – irgendwie frisch vom Frisör

Als einer der Ersten hatte er die Medizin auf eine neue Basis gestellt. Er studierte die Natur. „Umfasste sie nicht ein viel größeres Gebiet, als die Schulmedizin zuzugeben wagte?“ (H. Pächter „Paracelsus“) Der Mediziner schlug neue Behandlungswege ein, immer ausgehend von der zentralen Frage: was Krankheit eigentlich ist.

Wohl dem, der ihn in Zeiten der Not an seinem Krankenbett wusste. Wohl aber auch dem, der ihn nicht brauchte. Denn der Herr Doktor war ein rechter Zausel, der keiner Auseinandersetzung aus dem Weg ging, mit allen Streit anfing, dabei die Kollegen vor den Kopf stieß und allerlei mehr. Später, da war er schon weitergezogen nach Basel, berichtete sein Freund Oporinus in einem Brief, dass sich Paracelsus „dem Trunk und der Prasserei ergeben“ habe. „Die ganze Nacht…hat er sich nie ausgezogen, was ich seiner Trunkheit zuschrieb“.

„Dessen ungeachtet“ sei er, „wenn er am betrunkensten war“, zu seinem Schüler nach hause gekommen, um „mir etwas von seiner Philosophie zu diktieren“. In diesem Zusammenhang rühmte sein Schüler auch die Klarheit seiner Gedanken, „dass sie von einem nüchternen Menschen nicht hätten verbessert werden können“. Zudem hatte der Herr Doktor ein Schwert, das er bisweilen um Mitternacht wie ein Rasender aus der Scheide zog, es zu Boden schmiss, „so dass ich manchmal glaubte, er würde mir den Kopf abhauen“. So weit die Ausführungen des ‚Assistenten‘, das Verhalten seines Lehrmeisters betreffend, und man fragt sich unwillkürlich, warum heutzutage Assistenzärzte meine, sich über das Auftreten einzelner Chefärzte beklagen zu müssen.

Noch aber war es hier in Baden-Baden nicht so weit. Das war später, in Basel. Doch nun lag ein Fall vor, der die Behandlung des Besten bedurfte. Der Markgraf war krank, und zwar ernstlich. Und so schickte man nach dem Besten seiner Zunft, nach Parcelsus, der alsbald auch eintraf und mit der Fülle seiner Erfahrung konstatierte: dem Fürsten, der siech darniederlag, mache der Darm Probleme. Der Darm in seiner gereizten Form. Eine Darmreizung. So etwas würde zur Heilung Zeit brauchen. So verordnete er zunächst dem Markgrafen Ruhe und vor allem Geduld, beides solle die verabreichten Mittel ergänzen. Das allerdings würde sich hinziehen.

Ob der Markgraf jetzt auf einem guten Weg war? Möglich. Doch da hatte man nicht gerechnet mit den Medizinern vor Ort, die auf so einen wie diesen hergelaufenen Medicus gerade noch gewartet hatten, so einer, der sozusagen an ihnen vorbei den hohen Herren behandeln durfte. Die üblichen Eifersüchteleien also. Hinzu aber kam, dass sich der Hochgelahrte alsbald als das entpuppte, was er immer war: ein arroganter Rüpel, der sich der ortsansässigen Kollegen gegenüber so benahm, wie man es niedergelassenen Ärzten gegenüber besser nicht tut. Er wusste alles besser.

Die Schwachstelle der Behandlung war die Zeit, die sich Paracelsus ausbedungen hatte. Es solle gewartet werden, bis seine Mittel wirkten. Wunder dauern bisweilen etwas länger. Die Heilung brauche Zeit. Aber wie das bei Ärzten manchmal halt so ist: sie nehmen sich keine.

Offensichtlich hatte er aber nicht mit der Kamarilla gerechnet, die eifersüchtig geifernd um ihren Einfluss fürchtete und auch schon mal den avisierten Heilungsprozess hintertrieb. Er würde ihre Mittel als die seinen ausgeben, u.s.w. Sie geiferten weiter, intrigierten noch mehr.

Irgendwann wurde es wohl dem Markgrafen zu bunt, und so sah sich der Herbeigerufene ohne Entschädigung und Lohn entlassen, worauf der Herr Paracelsus verärgert das Weite suchte noch bevor die Krankheit den Patienten floh. Er verließ die Stadt, verbittert und sauer. Weiter zog es ihn nach Straßburg und von dort aus noch rief er unserem Fürsten hinterher: „Der Markgraf ist ein größerer Bescheißer als der Jud Messe von Thales“.


 










Allgemein Essen & Trinken Menschen Stadtstreicher

Unser täglich Brot gib uns heute

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…aber bitte nicht zwei Kilo auf einmal. 

Das Leben einer Einzelhandelskauffrau ist keineswegs so einfach, wie man sich das gemeinhin so vorstellt. Ständig muss sie sich mit neuen Themen auseinandersetzen. Da taucht frische Ware auf. Neue Preise werden auf- , altes Wissen wird abgerufen. Und dann auch noch die Kundschaft mit all ihren Wünschen. Allein schon die Fleischtheke bietet eine Fülle von Herausforderungen, wenn es z.B. gilt, verschiedene Fleischsorten den korrespondierenden Tieren zuzuordnen. Allein schon so etwas  erfordert eine ganze Menge an Knowhow. Glücklich, wer da noch das Berichtsheft aus der Zeit seiner Lehre in Reichweite hat. Etwas einfacher ist es, arbeitet man an der Fischtheke. Aber auch da wäre es gut, könnte man den Süßwasserfisch seiner Herkunft nach dem Viktoria- oder dem Titisee zuordnen. Weiter wäre gut zu wissen, dass der Rollmops von den Lofoten kommt und die Wiege der Schwarzwaldforelle in der Nähe von Freudenstadt steht.

Etwas leichter tut sich da die Verkäuferin an der Brottheke eines Supermarktes. Gut ausgebildet, wie sie ist, weiß sie z.B. dass das Brot, das sie verkauft, vom Bäcker kommt, was das Erfüllen des Kundenwunsches zwangsläufig enorm vereinfacht. Meist deutet der Kunden vor der Theke stehend ohnehin auf ein bestimmtes Brot im Regal und sagt: „Von dem da, bitte“. Ist der Service perfekt, wird die Fachfrau versuchen, den Wunsch des Kunden behutsam einzugrenzen, etwa dergestalt: in dem Brot da ist aber Kümmel drin.

So ähnlich war es mir erst kürzlich ergangen, als mich am Brotstand eine bestens ausgebildete Einzelhandelskauffrau auf diesen Unterschied hinwies. „Da ist aber Kümmel drin“, sagte sie mit leichtem Bedauern, denn das Brot war von gestern und hätte weggemusst. Gut, dass es diese Sorte dann aber auch ohne Kümmel gab, weshalb sie nach einem frischen Laib griff. Eigentlich hätte sie sich gewünscht, dass die Menge ungeteilt über die Ladentheke geht. So traf sie meine Bitte um die Zuteilung von 300 Gramm ziemlich unvermittelt. Mit verdunkeltem Blick wuchtete sie den Laib auf das Schnittbrett, waltete ihres Amtes, schnitt ab und legte das Stück auf die Waage. 500 Gramm. Beim Einpacken fragte sie noch schnell, ob es recht sei. Nein, sagte ich. Da ich kein altes Brot mag, sagte ich, ich hätte gern 300 Gramm. Zu fortgeschrittener Arbeitszeit auch noch ein renitenter Kunde – das hatte ihr gerade noch gefehlt. Zugeteilter Brotabschnitt also wieder zurück. Restlaib wieder her. Jetzt drehte sie den Spieß um. Sie wurde bockig.

Dann solle ich ihr doch jetzt bitte mal sagen, wie viel Brot ich eigentlich will. Ich sagte 300 Gramm. Auf dem Schnittbrett lagen zwei Kilo, zudem das Messer und die Hand, die es hielt. Sie schien offensichtlich nicht gewillt, ihre Kenntnisse der Mengenlehre als Teil ihrer Ausbildung heranzuziehen. Noch ruhte das Brotmesser in ihrer Hand. Ihr Blick war herausfordernd. Unter keinen Umständen schien sie gewillt, sich dem Wunsch des Kunden nach der erbetenen Schnittmenge zu stellen. Unter diesen Umständen schien ihr sogar geboten, Verantwortung abzugeben, das Bestimmen der Menge also auf den Kunden abzuwälzen. Sie rückte ihren enormen Laib in die Mitte und legte das Messer an. Wie viel, sagte sie, soll’s denn sein? Ich sagte 300 Gramm. Soweit ich durch das Schutzglas der Theke sehen konnte, zitterte ihre Messerhand jetzt leicht.

Der Kunde blieb jetzt nur noch die herausfordernde Möglichkeit, sich vor ihrem verdüsterten Auge zu blamieren. Jetzt also wäre es an mir, sich der kaum zu bewältigende Aufgabe der Mengenzuteilung zu stellen. 300 Gramm wollen schließlich mengengenau abgeschnitten sein. Dass sie ihre gesamte berufliche und private Existenz ursprünglich darauf gegründet hatte, dem Kunden die gewünschte Menge Brot zu verkaufen, blieb in diesem Zusammenhang unerwähnt.

Mittlerweile hatte sich vom Käse her ihr Kollege genähert, der, am Rande des Emmental friedlich agierend, mitbekommen hatte, dass sich nebenan wohl ein Konflikt abzeichnet, der – wie so viele weltweite Auseinandersetzungen – wohl in der Verteilung der Resource ‚Nahrung‘ seinen Ursprung nahm. Schnell aber ahnte er, wie komplex das Thema war. So schien es ihm das Klügste, sich lieber wieder dem traditionell abgepackten Backsteinkäs‘ zuzuwenden.

Noch aber thronte hinterm Tresen diese massive Brotmamsell, nicht willens, auch nur eine Schnitte nachzugeben. Das Blitzen der vor ihr senkrecht stehenden Klinge im Auge ließ ich mich letztlich darauf ein, die gewünschte Menge selbst zu bestimmen, was – da ich die Nerven verlor – in einem schmachvollen, mich rundum demütigenden Prozess endete. Millimeterweise verschob sie ihr Brotmesser auf dem Brotlaib, mich fixierend und abfragend: soll’s so viel sein, oder soviel, oder sogar soviel?

Fix und fertig wie ich jetzt noch beim Schreiben bin, gab ich ein erschöpftes ‚In Ordnung‘ von mir. Als die Waage ‚450 Gramm‘ anzeigte, war meine Niederlage schlechterdings nicht mehr zu leugnen, zumal mir dieser Brotleib die Übermenge vor allen Umstehenden auch noch laut und höhnisch ansagte.

Vor aller Augen gedemütigt, machte ich mich davon (verkrümelte mich also), fest entschlossen, als Speisebeilage in Zukunft mehr auf die Kartoffel zu setzen.

 

Allgemein Auswärts

Genuss in vollen Zügen

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Wenn einer eine Reise tut: mit der Bahn von München nach Stuttgart

München in diesen Tagen. Alles liegt unter einer dicken Schneedecke begraben. Über der Stadt wölbt sich ein kalter blauer Himmel, doch wen das Reisefieber packt, dem wird ganz anders. Wetterbedingt herrscht null Zugbetrieb. War die Großwetterlage noch winterlich schön, geriet der Rest dann aber eher nicht so toll. Gestern zumindest ging erst einmal gar nichts. Absolute Stille. Heute dann vorsichtiges Anfahren. 11.30 h sollte der erste Zug von München nach Stuttgart abgehen. Seitens der Bahn versprochen war zumindest schon mal Vollauslastung . Kein Wunder, dass die Fahrgäste das Versprechen wörtlich nahmen und nachschauten, ob das auch stimmt. Und in der Tat herrschte am Bahnsteig auch reges Gedränge, und es zeichnete sich recht schnell ab, dass der Zug überfüllt sein würde.

Wie oft zu Stoßzeiten standen die Leute dann auch in der Gängen, saßen auf Koffern oder versuchten, sich sonst irgendwie zu positionieren. Wer Glück hatte, fand einen Platz im Speisewagen. Alles also wie gehabt, wenn zur Urlaubszeit die Reiserei losgeht und die Bahn zu ihrem alljährlichen Erstaunen von den Fans überrannt wird. 

Aber diesmal sollte es etwas anders laufen. Da nämlich teilt der Zugführer über Lautsprecher mit: solange nicht jeder auf einem Platz sitze, könne der Zug sich nicht in Bewegung setzen. Dies geschehe aus Gründen der Sicherheit; es wäre zu unserem Besten. Nichts geht mehr. Keiner bewegt sich. Der Zugführer bleibt stur. Minute um Minute verrinnt. Der Zug steht. Kein Schaffner weit uns breit. Mittlerweile sind 35 Minuten verstrichen. Der Zug steht; zu unserer aller Sicherheit. Droht Achsenbruch? Alle sind genervt, vor allem auch jene Passagiere, für die das Reisen mit der Bahn auf Koffern bislang die übliche Fortbewegung war. Jetzt droht man nicht fixierten Fahrgästen per Lautsprecher sogar mit dem Hinzuziehen eines Ordnungsdienstes.

Den Rausschmiss vor Augen, habe ich mich gerade noch auf einen freien Platz in der 1. Klasse gerettet. Neben mir auf dem Boden sitzt eine Junge Frau. Sollten die angekündigten Polizeikräfte sich nähern, überlege ich, sie durch das Überwerfen meines Mantels vor einem eventuellen Zugriff zu schützen. Vielleicht passt sie in meinen Koffer? Man sollte sie verstecken. Vielleicht schmeißt man mich aus dem Zug, weil ich unerlaubt sitze oder im Begriff bin, Beihilfe zu widerrechtlicher Beförderung zu leisten?

Nach einer Stunde dann die Abfahrt. Zu einem fröhlichen Hallo bleibt keine Kraft mehr. Das, was jahrelang üblich war – das Reisen in übervollen Zügen –, solle auf einmal nicht mehr erlaubt sein? Ein Scherz? Es muss eine Verordnung in Kraft getreten sein, von der bislang niemand wusste.

Angesicht der schwerwiegenden Situation muss ein Verdacht hier freilich erlaubt sein: wäre es möglich, dass die Bahn kurz vor den anstehenden harten Tarifverhandlungen  noch versucht, Ballast abzuwerfen?

Allgemein Essen & Trinken Menschen Texte / Poesie

Auferstanden aus Ruinen

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Gottseidank haben wir ihn wieder. Den Eierlikör!

Lange war er weg. Das letzte Mal, da ich ihn bewusst wahrnahm, war anlässlich eines warmen Sommerabends bei der Großtante meines Vaters. Sie hieß Marie20170318_171620 und lebte mit ihrem Mann, einem fröhlich vor sich hin dilettierenden Kunstmaler, in ihrem nach einer verheerenden Bombennacht wieder eigenhändig aufgebauten Häuschen in Offenbach.

Dort saß nun mein hagerer Onkel Josef, ein nassgekauter kalter Stumpenstummel zwischen seinen Kriegszähnen, in seinem kleinen, eng zwischen den anderen Häusern eingeklemmt Gärtchen und malte: die Katze am Fenster, mit Wollknäul spielend. Der brave Landmann, hinter zwei mächtigen Kaltblütlern und seinem Pflug hergehend. Im Kreise der Enkel sehen wir die Großmutter am Spinnrad, auch hier wieder die Katze, jetzt aber Pfötchen leckend. Und dann ein Osterspaziergang, der Vater fröhlich vorneweg. Was man nach überlebten Bombennächten halt so malt.

20170318_171713Eines Tages aber erweiterte der Künstler sein malerisches Repertoire. Heidelberg und das zerstörtes Schloss wurde sein neues Sujet. Das an sich wäre noch nichts Besonderes, aber das Bild hatte auch ein ungewohnt großes Format. Dass hier in einer neuen Dimension gemalt wurde, muss schon deshalb erwähnt werden, weil eine große Leinwand damals wie heute teuer war. Ohnehin hatte meine sparsame Tante die Gewohnheit, jeden Teebeutel dreimal aufzubrühen. Zum Nachtisch gab es sonntags in Zuckerwasser gekochte Birnenschnitze. Zu jenen Zeiten war Schmalhans Küchenmeister.

Eines Tages aber saßen draußen im versteckten Hof sechs Damen auf kleinen, aus der Wohnung herbeigeschafften Stühlen. Sie beteten meinen Großonkel an, was ihn ziemlich stolz, meine Ur-Großtante aber ein wenig eifersüchtig machte. Der Grund der Versammlung war das von Onkel Josef geschaffene überaus romantische geratene Gemälde des Heidelberger Schlosses, dessen Romantik vor allem daraus resultierte, dass das Schloss – im Pfälzischen Krieg von den Franzosen in Brand gesteckt – feuerrot loderte. Dieser Eindruck wurde bei einbrechender Dämmerung zudem noch verstärkt, dass das Bild durch eine schwache Birne von hinten illuminiert wurde, was die Damen – gelinde gesagt – umhaute.

Doch das war nicht alles. Mir als Kind oblag es an diesem lauen Abend, einen vom Onkel handgeschriebenen Text aus einer Kladde vorzulesen, was ich als Kind zur großen Rührung der Zuhörerinnen auch tat. An den Inhalt erinnere ich mich nicht mehr genau. Irgendwie aber hatte der Text – stockend vorgetragen – etwas mit dem Mythos des Schlosses zu tun. Aber das war aber ohnehin zweitrangig, denn während der Beleuchtung zauberte mein stets nach kaltem Zigarrenrauch und Leinöl riechender Künstleronkel zur Entzückung seiner weiblichen Fans jetzt eine Flasche Eierlikör auf den Tisch, was von den Damen euphorisch begrüßt wurde, zumal der Eierlikör das Trendgetränk der damaligen Zeit war. „Prösterchen“, wurde gerufen, und eine der Damen senkte ihre Zunge tief ins Likörgläschen, den letzten Tropfen sich noch sichernd.

Mein Text war bald zu Ende gelesen und wurde abgelöst durch den ‚Treuen Husar‘, der aus einem dunkelbraunen Radio, aus der Küche heruntergebracht, in die von Steinmauern umfriedete Romantikenklave tönte. Die Gäste summten mit.

Irgendwann war der ‚Treue Husar‘ verklungen und die zartroten, zartblauen und zartgrünen Gläschen, in die Nachkriegszeit hinübergerettet, waren geleert (die 20170318_171842Fliegerbombe hatte also nicht alles vernichtet). Ganz in der Ferne hörte man eine Straßenbahn und immer noch kokelte das Heidelberger Schloss. Es war erfreulich spät geworden, als die Damen – ein bisschen erhitzt – sich verabschiedeten und gelobten,  doch recht bald wiederzukommen, um den restlichen Inhalt der Flasche auch noch zu trinken.

Die Damen weilen schon lange nicht mehr unter uns, und ob es dann zum Wiedersehen kam: ich weiß es nicht. Aber lange, allzu lange hat es gedauert, bis auch ich ihn, den lang Verschollenen, endlich wiedersah. Erst vereinzelt, fast verschämt, versteckt in den Regalen, in letzter Zeit aber häufiger, sich langsam in den Vordergrund und damit ins Bewusstsein schiebend. Der Eierlikör. Gelb, ölig, zähfließend.: „Ei, Ei, Ei Verpoorten. Verpoorten allerorten“.

Wir haben ihn wieder.

Allgemein Essen & Trinken Menschen

„Tante Mimser“ Teil 1

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Die kleine Stadt Oberkirch liegt am Eingang zum Renchtal. Das Haus meiner Großeltern steht dort noch heute. Es liegt schräg gegenüber der evangelischen Kirche. Dieses Haus hatten meine Urgroßeltern gekauft, die, tüchtig wie sie offensichtlich waren, in Schildigheim bei Straßburg eine Metzgerei betrieben hatten und schon bald zwei Häuser besaßen. Dann ging der  1. Weltkrieg verloren und das Elsass gehörte wieder zu Frankreich. Plötzlich hörte mein Urgroßvater, im Elsass drohe den Deutschen die Enteignung. Es wäre besser, er würde beide Häuser verkaufen. Tatsächlich war Matthäi am letzten. Eines der Objekte konnte gerade noch veräußert werden. Ein Freund, Lokführer bei der Eisenbahn, schmuggelte ihm das Geld aus dem Verkauf ins Badische. So kam es, dass meine Familie mit diesem Geld das Haus der ehemaligen Poststation in Oberkirch erwarb und darin ein Hotel nebst Restaurant betrieb, das sie den ‚Schwarzen Adler’ nannte.

Das Haus liegt an der Hauptstrasse, direkt in einer scharfen Kurve. Dort erlebte ich als Kind, aus dem Fester lugend, wie sich ein kleines Auto, ein Simca voller Elsässer, diese Kurve wohl etwas zu schnell genommen hatte, sich dann pendelachsenbedingt zur Seite legte, worauf die Insassen den Wagen durchs Fenster verließen, den Simca schnell wieder auf die Achsen stellten und die Fahrt fortsetzten. Doch war das nicht das einzig Bemerkenswerte an meiner Kindheit. Da gab es noch ein Faktotum namens ‚Schwab’, der aus Urloffen stammte und als Knechtsfigur irgendwie zum Inventar gehörte. Er soll, so die Erzählung, mich als Kind unbändig geliebt haben. Weiter verwöhnte mich ein älteres Hausmädchen namens ‚Wieg’, nicht zu vergessen auch der erste Freund meiner Kindheit, der Uhrmacher Müller, bei dem ich auf dem Boden sitzend, von Zeit zu Zeit glücklich einen alten Wecker auseinanderschrauben durfte.

Seinen Vater nannte man damals aus heute nicht mehr nachvollziehbarem Grund ‚Quatre Vingt’. Ihm ging der Ruf voraus, er könne aus dem Fluss, der Rench, Forellen mit bloßer Hand fangen. Soweit hatte es sein Sohn, mein erwachsener Uhrmacherfreund, noch nicht gebracht. Der hatte sich vorerst einmal die dunkelhaarige Bedienung meiner Großmutter gefischt, mit der er ein Techtelmechtel pflegte. Sie hieß Elisabeth und muss wohl als irgendwie rassig gegolten haben, denn sie trug, wie die Zigeunerinnen auf zeitgenössischen Ölgemälden, große goldene Ohrringe und zudem noch schwarze Unterwäsche, die zu meinem knabenhaften Entzücken, allwöchentlich zum Trocknen an der Wäscheleine hing. Weiter gab es da noch eine ältere Dame, die – ich erinnere mich schemenhaft – auf dem riesigen Speicher des ‚Schwarzen Adler’ wohl eine Wohnung, tatsächlich aber eher eine Art Verschlag, bewohnte.

Das war Wilhelmine Rösch, auch die ‚Röschin’ genannt.

Diese Frau Rösch, von anderen auch noch Mimi genannt, betrieb in den frühen Sechzigerjahren eine Art Kiosk im ‚Städtl’. Dieser Kiosk lag eher versteckt in einer Gasse, die zum Kirchplatz führte. Der Kiosk bestand aus einem kleinen Raum, der ein Fenster nach draußen besaß. Dort, im Halbdunkeln, verkaufte sie neben allerlei Krimskrams vor allem Zeitschriften, darunter die ‚Bunte’, ‚Burda Moden’, auch die ‚Praline‘ und jede Menge Kreuzworträtselhefte. Unter den vielen Journalen, die dort zu haben waren, gab es bereits auch schon den ‚Spiegel’, was Wilhelmine Rösch bei den Honoratioren, die sich im Schwarzen Adler zum allwöchentlichen Stammtisch trafen, den Ruf eintrug, eine Intellektuelle zu sein.

Einer ihrer Kunden war der Obstgroßhändler Langenmeier, der, so stellte ich beim Sichten des Nachlasses meiner Großmutter fest, den ‚Spiegel‘ abonniert hatte und eigentlich jeden Artikel – mit seltenen Ausnahmen – von vorne bis hinten unterstrich, um nach abgeschlossener Lektüre das üppig bemalte Journal anschließend dem Hause großmütig zur allseitigen Erbauung zu überlassen. Dort lagen dann die Hefte im sogenannten Frühstückszimmer, und jeder Gast sah sich vom Obstgroßhändler Langenmeier also intellektuell an der Hand genommen, galt es, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Frau Rösch hatte sich, soweit mir erinnerlich, nie zum Inhalt des ‚Spiegel’ geäußert. Deutlich in Erinnerung ist mir aber noch ihr Parfum, das damals wohl ‚4711 Kölnisch Wasser’ war und das in der den älteren Damen gemäßen Geruchsrichtung ‚Tosca’ entweder durch tupfen aufgetragen oder aus einem Flacon versprüht wurde. Hier vermischt sich rückblickend die Erinnerung an ihren schon deutlich gefältelten Brustansatz. Da könnte ich jetzt auch noch an das Spitzentaschentüchlein denken, das, mit Klöppelrand, den Eau de Cologne Duft aufgenommen hatte, um ihn an entlegenerer Stelle zu konservieren.

Was damals noch aktuell war, ist, rückblickend betrachtet, der Duft von Gestern, der da vom Speicher herunterzog und in Person der Röschin allwöchentlich präsent war. Denn der Stammtisch der älteren Herren – von denen man sich nie vorstellen konnte dass sie je jung gewesen waren – rief immer nach Wilhelmine Rösch. Besuchte ich meiner Großmutter, war es an mir, Wilhelmine Rösch als eine Art kindlicher Emissär zur Teilnahme an der abendlichen Gesellschaft zu bitten. Sie war die einzige Frau, die, ohne je die Eifersucht der daheimgelassenen Gattinnen zu erregen, an den runden Tisch gebeten werden durfte. Die Glückliche.

 

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