Category Archives: Stadtstreicher

Allgemein Essen & Trinken Menschen Stadtstreicher

Unser täglich Brot gib uns heute

Published by:

…aber bitte nicht zwei Kilo auf einmal. 

Das Leben einer Einzelhandelskauffrau ist keineswegs so einfach, wie man sich das gemeinhin so vorstellt. Ständig muss sie sich mit neuen Themen auseinandersetzen. Da taucht frische Ware auf. Neue Preise werden auf- , altes Wissen wird abgerufen. Und dann auch noch die Kundschaft mit all ihren Wünschen. Allein schon die Fleischtheke bietet eine Fülle von Herausforderungen, wenn es z.B. gilt, verschiedene Fleischsorten den korrespondierenden Tieren zuzuordnen. Allein schon so etwas  erfordert eine ganze Menge an Knowhow. Glücklich, wer da noch das Berichtsheft aus der Zeit seiner Lehre in Reichweite hat. Etwas einfacher ist es, arbeitet man an der Fischtheke. Aber auch da wäre es gut, könnte man den Süßwasserfisch seiner Herkunft nach dem Viktoria- oder dem Titisee zuordnen. Weiter wäre gut zu wissen, dass der Rollmops von den Lofoten kommt und die Wiege der Schwarzwaldforelle in der Nähe von Freudenstadt steht.

Etwas leichter tut sich da die Verkäuferin an der Brottheke eines Supermarktes. Gut ausgebildet, wie sie ist, weiß sie z.B. dass das Brot, das sie verkauft, vom Bäcker kommt, was das Erfüllen des Kundenwunsches zwangsläufig enorm vereinfacht. Meist deutet der Kunden vor der Theke stehend ohnehin auf ein bestimmtes Brot im Regal und sagt: „Von dem da, bitte“. Ist der Service perfekt, wird die Fachfrau versuchen, den Wunsch des Kunden behutsam einzugrenzen, etwa dergestalt: in dem Brot da ist aber Kümmel drin.

So ähnlich war es mir erst kürzlich ergangen, als mich am Brotstand eine bestens ausgebildete Einzelhandelskauffrau auf diesen Unterschied hinwies. „Da ist aber Kümmel drin“, sagte sie mit leichtem Bedauern, denn das Brot war von gestern und hätte weggemusst. Gut, dass es diese Sorte dann aber auch ohne Kümmel gab, weshalb sie nach einem frischen Laib griff. Eigentlich hätte sie sich gewünscht, dass die Menge ungeteilt über die Ladentheke geht. So traf sie meine Bitte um die Zuteilung von 300 Gramm ziemlich unvermittelt. Mit verdunkeltem Blick wuchtete sie den Laib auf das Schnittbrett, waltete ihres Amtes, schnitt ab und legte das Stück auf die Waage. 500 Gramm. Beim Einpacken fragte sie noch schnell, ob es recht sei. Nein, sagte ich. Da ich kein altes Brot mag, sagte ich, ich hätte gern 300 Gramm. Zu fortgeschrittener Arbeitszeit auch noch ein renitenter Kunde – das hatte ihr gerade noch gefehlt. Zugeteilter Brotabschnitt also wieder zurück. Restlaib wieder her. Jetzt drehte sie den Spieß um. Sie wurde bockig.

Dann solle ich ihr doch jetzt bitte mal sagen, wie viel Brot ich eigentlich will. Ich sagte 300 Gramm. Auf dem Schnittbrett lagen zwei Kilo, zudem das Messer und die Hand, die es hielt. Sie schien offensichtlich nicht gewillt, ihre Kenntnisse der Mengenlehre als Teil ihrer Ausbildung heranzuziehen. Noch ruhte das Brotmesser in ihrer Hand. Ihr Blick war herausfordernd. Unter keinen Umständen schien sie gewillt, sich dem Wunsch des Kunden nach der erbetenen Schnittmenge zu stellen. Unter diesen Umständen schien ihr sogar geboten, Verantwortung abzugeben, das Bestimmen der Menge also auf den Kunden abzuwälzen. Sie rückte ihren enormen Laib in die Mitte und legte das Messer an. Wie viel, sagte sie, soll’s denn sein? Ich sagte 300 Gramm. Soweit ich durch das Schutzglas der Theke sehen konnte, zitterte ihre Messerhand jetzt leicht.

Der Kunde blieb jetzt nur noch die herausfordernde Möglichkeit, sich vor ihrem verdüsterten Auge zu blamieren. Jetzt also wäre es an mir, sich der kaum zu bewältigende Aufgabe der Mengenzuteilung zu stellen. 300 Gramm wollen schließlich mengengenau abgeschnitten sein. Dass sie ihre gesamte berufliche und private Existenz ursprünglich darauf gegründet hatte, dem Kunden die gewünschte Menge Brot zu verkaufen, blieb in diesem Zusammenhang unerwähnt.

Mittlerweile hatte sich vom Käse her ihr Kollege genähert, der, am Rande des Emmental friedlich agierend, mitbekommen hatte, dass sich nebenan wohl ein Konflikt abzeichnet, der – wie so viele weltweite Auseinandersetzungen – wohl in der Verteilung der Resource ‚Nahrung‘ seinen Ursprung nahm. Schnell aber ahnte er, wie komplex das Thema war. So schien es ihm das Klügste, sich lieber wieder dem traditionell abgepackten Backsteinkäs‘ zuzuwenden.

Noch aber thronte hinterm Tresen diese massive Brotmamsell, nicht willens, auch nur eine Schnitte nachzugeben. Das Blitzen der vor ihr senkrecht stehenden Klinge im Auge ließ ich mich letztlich darauf ein, die gewünschte Menge selbst zu bestimmen, was – da ich die Nerven verlor – in einem schmachvollen, mich rundum demütigenden Prozess endete. Millimeterweise verschob sie ihr Brotmesser auf dem Brotlaib, mich fixierend und abfragend: soll’s so viel sein, oder soviel, oder sogar soviel?

Fix und fertig wie ich jetzt noch beim Schreiben bin, gab ich ein erschöpftes ‚In Ordnung‘ von mir. Als die Waage ‚450 Gramm‘ anzeigte, war meine Niederlage schlechterdings nicht mehr zu leugnen, zumal mir dieser Brotleib die Übermenge vor allen Umstehenden auch noch laut und höhnisch ansagte.

Vor aller Augen gedemütigt, machte ich mich davon (verkrümelte mich also), fest entschlossen, als Speisebeilage in Zukunft mehr auf die Kartoffel zu setzen.

 

Allgemein Menschen Stadtstreicher

Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da

Published by:

Auf Katzenjagd in Baden-Baden

Der Einsatzort wird gesichert

So genau soll man gar nicht wissen, was um Mitternacht in deutschen Betten so vor sich geht. Aber vorstellen kann man sich’s schon. Nämlich ziemlich wenig. Jedenfalls nicht in den Betten rund um den Jesuitenplatz in Baden-Baden. Dort nämlich vernahm kürzlich eine einschlafgestörte Einwohnerin auf der Suche nach nächtlicher Zerstreuung, in den Wipfeln innerstädtischer Bäume  das Miauen mehrerer Katzen. Dieses Miauen gab ihrem nächtlichen Leben plötzlich wieder so etwas wie Sinn.

Aber so, wie Kinder am liebsten spielen, wenn Erwachsene dabei sind, beließ es die plötzlich hellwache Einwohnerin keineswegs dabei, dem lieblichen Miauen eines Kätzchens zu lauschen, sondern sie wurde aktiv und griff zum Telefon. Sie tat dies in der vermeintlich sicheren Gewissheit, dass es den Feuerwehrleuten  mit all ihren Einsatzleitwagen,  dem Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug und einer Drehleiter, so ähnlich geht. Verständlich also, dass die durch den Katzenlärm alarmierte Einwohnerin sich zu ihrem Festanschluss vorarbeitete, um mit zitternden Fingern die Nummer der Feuerwehr zu wählen. Unter Hintanstellung ihres verdienten Schlafes machte sie sich nahezu selbstlos daran, die Rettung von ca drei Katzen aus einem innerstädtischen Baum zu initiieren.

Dafür durfte sie sich der Hilfe der Männer vom zuständigen Dezernat (Fachbereich Ordnung und Sicherheit) gewiss sein. Statt der besorgten Einwohnerin, wie vielleicht früher, zu empfehlen, etwas Honig in warme Milch zu geben um sich dann sich schlafen zu legen, brach die bereitstehende Feuerwehr unverzüglich auf, um des Nachts Katzen aus Bäumen zu retten, also Schlimmstes zu verhindern.

Man achte auf den Poller. Er wird umfahren!

Das freilich sollte sich schwerer gestalten, als zunächst vermutet. Augenscheinlich bedurfte es schon gewaltiger Fahrkenntnisse, um im nächtlichen Einsatz das Fahrzeug mit seiner Drehleiter (DLK 23/12) am engen Jesuitenplatz so zu manövrieren, ohne dass man die sandsteinernen Poller, die den Brunnen schützen, umfährt. Weiter galt es, die ausgefahrene Drehleiter so zu platzieren, dass die Leiter in vollausgefahrenem Zustand zumindest in die Nähe der bedauernswerten Geschöpfe kommt. Viel Lärm um nichts?

Noch zu weit links. Das Miauen kommt eher von rechts.

Das könnte man so sehen. Denn trotz sorgfältigsten Manövrierens und dem Einsatz eines mit krallenresistenten Handschuhen ausgestatteten Feuerwehrmannes, gelang es dann doch nicht, die Katzen zu fassen. Unter dem drohend wirkenden Einsatz angefahrenen Materials war es der Katzenfamilie anscheinend gelungen, sich dem Zugriff zu entziehen und sich aus dem Staub zu machen. Das muss man erwähnen, ohne es aber allzu tragisch zu nehmen.

Rückblickend darf man sagen: es ist noch einmal gut gegangen. Man mag den Aufwand vielleicht etwas unverhältnismäßig finden, so bleibt doch festzuhalten, dass er sich gelohnt hat.

Denn wie sollte die überaus löckchendekorierte Geschäftsführerin der Baden-Baden Kur- und Tourismus GmbH, Nora Waggershausen, der Welt kommunizieren, dass die Stadt in Ihrer Pracht einzigartig sei, wenn sie Gefahr liefe, dass durchsickert, dass es hier  von Zeit zu Zeit Katzen hagelt?

Allgemein Stadtstreicher

Die Meistersinger aus Tibet

Published by:

800px-Bhutan_10Kein Zweifel. Baden-Baden ist eine durch und durch musikalische Stadt. Das fängt ja schon mit Richard Wagner an, dessen Bayreuth um ein Haar in Baden-Baden gestanden hätte. Von der Idee übrig geblieben ist heute leider nur noch ein Gymnasium gleichen Namens. Später kam dann ja das Festspielhaus hinzu, das neuerdings neidisch mitansehen muss, dass die besten russischen Sänger sich in der Fußgängerzone die Klinke in die Hand geben.

Im Sommer gibt’s von Zeit zu Zeit das Kurkonzert einer Blaskapelle aus einer Reblandgemeinde. Manchmal haben wir auch noch einige Kinder an der Blockflöte, die sich das Taschengeld aufbessern. Und dann gibts ja auch noch Marc Marshall, der aber nicht so oft singt. Und wenn, dann am liebsten bei schönem Wetter, denn dann werden seine tollen Schuhe und die Hosenträger nicht schmutzig.

Was wir aber kürzlich in der Fußgängerzone hatten, war ein exotisches Gesangs-Ensemble. Von der Statur her war das Ensemble ziemlich klein, untersetzt, ja, irgendwie quadratisch. Sie kamen wahrscheinlich aus den Anden. Oder aus Tibet. Doch, aus Tibet hätten sie eher sein können, denn sie haben total hoch gesungen, und weil man im Himalaya einen etwas anderen oder sagen wir: gestreckten Zeitbegriff hat, sangen sie auch ziemlich lang. Lang und hoch. Tibet halt.

Das wäre mir gar nicht so aufgefallen, wenn sie ein anderes Lied gesungen hätten, vielleicht noch ein Lied, ein zusätzliches also. Sie hatten jedoch nur eines dabei gehabt. Ich hatte aufgepasst, denn nachdem ich € 2 gespendet hatte, blieb ich noch ein ganzes Weilchen stehen.

Weil sie nun aber über eine längere Zeit immer wieder dieselbe Melodie sangen, konnte ich mich auf den Text konzentrieren, der sich freilich, soweit ich des Tibetischen mächtig bin, immer wieder änderte. Sehr viele Strophen drangen also an und in mein Ohr. Vor allem die vielstimmigen Frauenstimmen setzten mir zu. Ich denke jetzt mal, das war so ein tibetanisches Heldenepos, eine Art Odyssee der Berge. Allerdings – wie schon gesagt – ein bisschen gleichförmig.

Der ältere Herr neben mir hatte wohl ein Gefühl, das in die ähnliche Richtung ging, denn immer wenn ich ihn ansah, pendelte er mit seinem Körper ganz sachte nach vorne und dann nach hinten. Es war offensichtlich: er ging mit der Musik mit. Sie hatte ja auch etwas Meditatives.

Nach etwa 20 Minuten – meine € 2 waren inzwischen aufgebraucht – bin ich kurz nach Hause. Ich wollte nur kurz meine Kamera holen, um das Ereignis für den BLOG zu bebildern. Beim Weggehen dachte ich noch, dass allenfalls die Enkelkinder des älteren Herren das Ende des gesungenen Epos noch erleben würden. Deshalb beeilte ich mich nicht übermäßig mit meiner Rückkehr, zumal die Frauenstimmen beim Weggehen noch ganz kräftig klangen. Als ich dann wieder zurückkam, war die Gruppe weg. Plötzlich hatte es sich ausgesungen. Stille. Es war, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Vielleicht war der ganze Chor in eine von ihm selbst besungene Gletscherspalte gerutscht? Man weiß ja nie.

Und der ältere Herr, der war auch nicht mehr da. Ich schätze, den hatten sie gleich mitgenommen bei ihrer Höllenfahrt.

PS So wie auf dem Bild, hatte der Chor nicht ausgesehen.

Allgemein Blättern & Rauschen Menschen Stadtstreicher

Die Bewegungsmelder

Published by:

Tai-Chi in der Lichtentaler Allee. Zum Public Viewing nach Baden-Baden 

Tai Chi ist nach Auskunft aller, die sich damit befassen, eine tolle Angelegenheit. Ursprünglich verstand man darunter eine ‚innere’ Kampfkunst (chinesisch 內家拳). Allerdings hat sich die Kampfkunst im Laufe ihrer mitteleuropäischen Zivilisierung zu einer Art Gymnastik entwickelt, die auch den nicht beteiligten Beobachtern höchsten Respekt abfordert. Das kann man immer mal wieder auch in der Lichtentaler Allee in Baden-Baden beobachten, wo selbst normale Deutsche vor einer staunenden Öffentlichkeit sich im Tai Chi üben. Außenstehende erinnert es mit seinen fließenden Bewegungen an eine Art Schattenboxen in Zeitlupe.

Unterzieht man sich diesen Übungen, könne man den körpereigenen Kräftefeldern behutsam nachspüren, so heißt es. Auch innerkörperliches Fließen, vielleicht von Ying nach Yang (oder so), kann empfunden werden.

Kurz: die Freunde dieses öffentlich und geräuschlos ausgeübten Kampfsports fühlen sich auch in seiner zivilen Variante in ihrer Persönlichkeitsentwicklung ziemlich gestärkt. Auf Nachfrage sagen sie so Sachen wie: übt man das Tai Chi aus, ist man irgendwie bei sich. Außerdem ist immer mal wieder von einer Art innerer Entschlackung die Rede. Ja, hätte man sich den Übungen unterzogen, sei das total geil. Anschließend fühle man sich  super drauf und auch noch pumperlg’sund.

Das muss ein Russe in der Allee gestern gründlich missverstanden haben. Am oberen Ende der Pferdewiese stehend, war er, von kurzer gedrungener Gestalt, ein ziemlich massiger Mann. Er trug den von slawischen Männern so geschätzten Adidas Trainingsanzug mit seinen drei seitlichen Streifen. An sich nichts Bemerkenswertes, hätte er an diesem vorfrühlingshaft kalten Morgen dort in aller Öffentlichkeit nicht die russische Variante des Tai Chi gepflegt.

Offensichtlich war es ihm gelungen, eine massive Eisenkugel nach Baden-Baden zu schaffen. Diese erinnerte entfernt an die Modelle, mit denen früher arme Sünder in den Verliesen fixiert wurden. Weiter hatte er bei sich eine Eisenstange, die er in ein Loch der Kugel schob. Jetzt konnte er die Stange plus Kugel als Hantel benutzen.

Wenn wir dem Tai Chi mit all seinen Bewegungsabläufen meditationsanregende Fähigkeiten zugestehen, dann bestand die von dem Russen gepflegte Variante nun aber darin, die Stahlstange mit der Stahlkugel um seinen Hals, aber auch um den massigen Oberkörper kreisen zu lassen. Dann ging er ein bisschen in die Hocke, wippte, nahm seine Bürde wieder auf und auf einmal schrie, nein, er brüllte furchtbar laut irgendwelche russisch klingende Wortfetzen. Dann wieder hoch die Kugel, entschlossenes Kreisenlassen des Gewichts auf Oberkörper und Schulterpartie. Dann Brüllen. Danach Wippen. Kurzes Hochreißen, Kreisen. Brüllen. Wippen.

Man wird verstehen, dass die lautstarke Übung bei den Spaziergängern einige Irritation auslöste. Aber noch jemandem anderem gab sie zu denken. Am nahen Ufer der Oos stehend, blickte ein Fischreiher kurz auf, wechselte das Standbein, und irgendwie sah es aus, als würde er sich fragen: was ist denn das für ein komischer Vogel?

Allgemein Menschen Stadtstreicher

Oh Heiliger Bimbam!

Published by:

Kann man Weihnachten übertreiben? Ein Wunder: es geht!

Wer im vorweihnachtlich gestimmten Baden-Baden nicht gerade selbst in froher Erwartung ist, wird die baldige Ankunft des Jesuskindes mit all seinen Nebenwirkungen eher als Zumutung empfinden. Anlassbedingt überschwemmen derzeit tausende von Touristen die Innenstadt. Natürlich die obligatorischen Franzosen, Schweizer und Amerikaner, vereinzelt aber aber auch schon wieder Chinesen. Sie alle kommen nach Baden-Baden, um ‚the real Christmas – Event’ zu erleben. Den etwas abseits geparkten Bussen entstiegen, nähern sie sich der Innenstadt. Schon anfänglich fast trunken vor Heilserwartung, lässt sich auf dem Christkindlesmarkt dieser beseelte Zustand durch das Zuführen von Glühwein noch kräftig steigern. Fortan sieht man alles doppelt. So etwas nennt man ein Lichtermeer.

Hinzu kommen die jüngst Zugezogenen. Nach dem Angriff auf die Ukraine hat sich die Zahl der jährlichen Weihnachtsmarktbesucher durch den Zuzug russisch/ukrainisch sprechenden Flüchtlinge noch deutlich vermehrt. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren es zunächst nur die hier ansässigen Russen. Baden-Baden, ein Sehnsuchtsort.

Nachdem die Russen im Zuge der Russischen Revolution 1918 den Zar und seine Familie umgebracht hatten, entdeckten deren Nachfahren hier in Baden-Baden jetzt die ‚gute alte Zeit‘. Hinzu kommen jetzt auch noch eine große Anzahl von vor dem Krieg geflüchteten Ukrainer. Noch scheinen die beiden Volksgruppen einvernehmlich miteinander auszukommen. Immerhin eint beide Gruppen ein auffallender Hang zu selbstgefärbtem Blondhaar und mit Pailletten besetzten Jeans. Weiter gefällt man sich in Strickmoden, deren lilafarbenen Zopfmuster kongenial ergänzen werden durch einen erstaunlichen Hang zu überschweren Parfums.

Die Ortsansässigen sehen sich kaum in der Lage, die beiden Gruppen sprachlich von einander zu trennen. Die Russen werden von den Einheimischen eher mir Argwohn betrachtet. Unaus-gesprochen wirft man ihnen vor, Putins Expansionskrieg gut zu heißen. Den Geschäftsleuten ist’s egal. Überall werden Arbeitskräfte gesucht. Zudem geben sich die in die Zugewanderten große Mühe, Deutsch zu lernen, was insofern nicht weiter verwunderlich ist, als dass die hier bereits sich heimisch fühlenden Deutschrussen eifrig darauf erpicht sind , als Ur- Deutsche zu gelten. Ansonsten pflegt man die Liebe zur slawischen Heimat und deren kulinarischen Köstlichkeiten.

Wer z.B. hier nach dem authentischem Borschtscherlebnis sucht, sieht sich hier vom „MixMarkt“ der Monolith Gruppe – ein Großhändler für den Export slawischer Produkte – bestens versorgt. Gegen Heimweh hilft z.B. der Genuss von ‚Rjaschenka‘. Ein Festmahl kann man mit ‚Plombir‘ oder einem Speiseeis der Marke ‚Eskimo‘ krönen. Wem das noch nicht reicht, der wird auf der Suche nach einer weiteren Zumutung in der Mitte der Stadt fündig. Dort trifft man auf den „Löwenbräu-Keller“ mit seinem Biergarten. Wie in jedem Winter wurde er auch dieses Jahr wieder saisonal umfunktioniert. Wer sich also nach Borschtsch verzehrt, wer Geschmack findet an eingearbeitetem, blondem Falschhaar – dem wird beim Anblick dieses weihnachtlichen Ensembles das Herz aufgehen. Selbst wenn man die Deko Orgie elsässischer Vorgärten mit all ihren Gipszwergen, farbigen Störchen und ‚Hansi‘-Figuren als Vergleich heran zieht, selbst dann darf man das dort Zusammgetragene als einen Meilenstein der Geschmacklosigkeit ansehen. Nicht ganz frei ohne Bewunderung fragt man sich, in welchen Keller und Ablagen der Gärtner dieser Zauberlandschaft gestöbert haben muss, um mit der Überfülle dieses weihnachtlichen Sammelsuriums aufzuwarten.
Dies ist insofern bemerkenswert, als dass wir es gewohnt sind, uns gegen vielerlei Zumutungen zur Wehr zu setzen. Die offensichtlichste dieser von außen kommenden Zumutungen ist in der Regel der von anderen fabriziert Lärm, der uns so stört, dass wir zum Telefon greifen und nach der Polizei rufen. Wäre dem so bei dem hier optisch Gebotenen, bliebe den Ordnungshütern beim derzeitigen Stand der vorweihnachtlichen Geschmackslosigkeit keine Zeit mehr für besinnliches Feiern im Schoß der Familien.

 

  • Archive

  • Besucher

    Total Visitors
    1392335
    246
    Visitors Today
    67
    Live visitors